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Berührung

Eine Berührung kann wohltuend sein, beschützend, wohlwollend, unterstützend und sanft oder elektrisierend. Berührung kann aber auch übergriffig, verletzend, grob und unangenehm sein. Und genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich unser Dasein.

“Wir können blind, stumm und taub geboren werden, aber ohne Tastsinn können wir nicht überleben.”
In seinem Buch “Homo hapticus” beschreibt der experimentelle Psychologe Dr. Martin Grunwald welchen Einfluss der Tastsinn auf alle Bereiche unseres Lebens hat.
Die Entwicklung unseres Sinnessystems, unserer Motorik, der Nervenbahnen und des Immunsystems hängen im frühen Kindesalter von unserem Tastsinn ab. Und das Verstehen und Zurechtfinden in unserer Umwelt und im sozialen Gefüge ist und bleibt bis an unser Lebensende vom Tastsinn abhängig.
Und wie mit allen Sinnen, ist die Nutzung des Tastsinns die Voraussetzung für dessen funktionieren.

Berührung nehmen wir über den Tastsinn wahr. All die kleinen Berührungssensoren in unserer Haut geben uns eine Rückmeldung über die Art der Berührung. Entsprechend fühlen wir uns wohl und beschützt oder wir fühlen uns unwohl und haben Angst. Schauen wir aber in die Gesellschaft, dann wird deutlich, dass immer weniger Berührung stattfindet. Uns steht so viel persönlicher Raum wie noch nie zur Verfügung. Ungewollte Berührung ist für uns schon fast nicht mehr vorhanden und kann deshalb von immer weniger Menschen toleriert werden. Plötzlich wird eine ungewollte Berührung im öffentlichen Bereich anders bewertet, denn es fehlt uns schlicht die Erfahrung für diese Art der Berührung. Aggressivität, verbal und körperlich, sind plötzlich die Antwort auf diese ungewollten Berührungen.
Ebenso wird unser soziales Umfeld immer berührungsärmer - Singles, alte Menschen allein, überlastete Eltern, … Berührung wird zu einem raren Gut und der Gesellschaft und doch sind und bleiben wir berührungshungrig. Datingplattformen sind unter diesem Gesichtspunkt betrachtet eine Folge unseres Berührungshungers. Sie suggerieren Berührung in einem “geschützten” und selbst gewählten Rahmen.

Aber das allein reicht nicht aus, wie Elisabeth von Thadden in ihrem Buch “Die berührungslose Gesellschaft” darstellt. Im Wort “Berührung” steckt das Wort “Rühren”. Berührung soll für uns nicht nur äußerlich sein, sondern uns innerlich berühren, uns anrühren. Dazu jedoch ist Nähe unersetzlich. Nähe wiederum birgt jedoch auch immer die Gefahr der Übergriffigkeit und Verletzlichkeit. Nähe kann uns berühren oder verletzen - es sind zwei Seiten einer Medaille.
Unsere Gesellschaft wirkt momentan sehr abschottend, auf Sicherheit und Distanz bedacht. Es ist ein “Erlebnis”, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf der Strasse unterwegs zu sein: Kopfhörer auf dem Kopf, Blick aufs Smartphone - so scheinen wir unstörbar und unnahbar. Eine reale soziale Kommunikation und Nähe kann so nicht aufkommen. Und ohne Nähe keine Berührung.

Mit der Verarmung an Berührung gehen uns nicht nur die psoitiven körperlichen Auswirkungen von Berührung verloren, sondern wir verarmen auch sozial. Nähe, Zuwendung, Mitgefühl und Toleranz gehen uns mehr und mehr verloren.
Und so steht unsere Gesellschaft im Angesicht multipler Krisen auch in diesem Bereich vor einer “Krise”. Wohin werden wir uns entwickeln - zu einer Gesellschaft, “… in der argwöhnische Verschlossenheit, Kontrollbedürfnis und aseptische Berührungslosigkeit vorherrschen” oder zu einer Gesellschaft “… in der Menschen angstlos zugewandt sein können und einander freiwillig nah kommen” (Elisabeth von Thadden).
Ich hoffe sehr, dass ersterer Weg unser gesellschaftlicher Weg wird. Ich hoffe sehr, dass sich künftige Generationen verständnis- und vertrauensvoll in die Arme nehmen können und sich nah sind - für mich, für uns, für meine Kinder und alle uns nachfolgenden Generationen.